Ein Montag Abend im Juli: eine volle Kirche „wie an Weihnachten“, so Pfarrer i.R. Ebertshäuser in seinen einleitenden Worten.
Die evangelische Kreuzkirche in Reutlingen war an diesem 20. Juli 2015 Ort für ein ungewöhnliches Benefizkonzert. Geladen hatten der „Gesprächskreis Religionen Reutlingen“, die ACK (Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Reutlingen), die Evangelische und die Neuapostolische Kirche Reutlingen. Pfarrer i.R. Albrecht Ebertshäuser war vom 1. bis 27. Mai 2015 im Auftrag der Basler Mission/mission 21 nach Nigeria gereist, um sich selbst ein Bild von der aktuellen Situation zu machen. Diese Eindrücke wolle er den Anwesenden zumuten, wie er es ausdrückte. Für eine „bessere und schönere Stimmung“ sorgten der Gospelchor Reutlingen und der Gemeindechor der Neuapostolischen Kirche Reutlingen-Süd, sowie die Mosaik-Band der Kreuzkirche. Sie umrahmten mit ihren Mut machenden und glaubensstärkenden Liedern die drei Teile, in die Ebertshäuser seinen Vortrag gegliedert hatte.
Im Nordosten Nigerias, einem der reichsten Länder Afrikas, möchte Abubakar Shekau, der Chef von Boko Haram, mit Terror und Gewalt ein Kalifat errichten. Dabei töten seine Milizen alle, die sich ihm nicht unterwerfen, Christen und Muslime. Mehr als 15.000 Menschen sind bisher diesen Angriffen zum Opfer gefallen, ungefähr 2.000 Frauen wurden entführt, darunter mehr als 200 Mädchen aus einer Schule in Chibok – die Presse hatte 2014 darüber berichtet.
Viele Gebiete seien „Christen-frei“, auch viele Muslime seien geflohen oder Opfer von Attacken geworden. Ebertshäuser stellte drei Schicksale vor, Frauen, die er bei Besuchen von Flüchtlingslagern getroffen hatte. Unvorstellbare Brutalität haben diese Menschen erlebt, traumatische Erfahrungen zeichnen die Gesichter, Ungewissheit über das Schicksal verschleppter Verwandter. Viele traurige Kinder habe er gesehen, mehr als in den sieben Jahren seiner Tätigkeit als Pfarrer in Nigeria in den 80ern des vorigen Jahrhunderts.
Die Camps: ohne Strom, ohne Licht, zu viele Menschen leben dort, schlafen im Freien. Aber sie sind in Sicherheit. Die medizinische Versorgung übernehmen Schwestern ehrenamtlich. Ein Foto von einem Karton voller Medikamente: Bild der helfen wollenden Hilflosigkeit. Ebertshäuser traf auch Eltern von Chibok-Mädchen, die seit mehr als einem Jahr kein Lebenszeichen ihrer Töchter erhalten haben, die nicht wissen, ob ihre Mädchen noch leben, zwangsverheiratet sind, zum Islam konvertiert sind. Eine sei gesteinigt worden, so sagen die Gerüchte. Ob es stimmt wisse er nicht, aber wenn ja, sei er, der Vater, froh, denn das hieße, dass sie bis zum Tod ihren Glauben bewahrt habe. Traumaverarbeitungs-Workshops sollen den Eltern helfen, mit ihrer Situation fertig zu werden. Die Lieder, die der Chor der NAK danach vortrug, gaben den Anwesenden Zeit, das Gehörte zu verarbeiten. Sie leiteten über zum zweiten Teil. Ebertshäuser berichtete über die aktuelle Lage der „Kirche der Geschwister“, der Church of the Brethren, einer Friedenskirche. Am 29. Oktober 2014 war das Hauptquartier der Kirche überfallen worden. Fast alle Menschen hätten überlebt. Die Kirche der Geschwister hat inzwischen in Jos ein provisorisches Headquarter bezogen. Im Rohbau einer Kirche in Jos hielt sie eine Synode mit etwa Tausend Beteiligten ab. 13 Pfarrer und 30 Vikare wurden eingesetzt, auch wenn es noch keine Gemeinden für sie gibt. „Wir sind nicht am Ende. Es geht weiter!“ Hoffnungszeichen, geprägt von intensiver Arbeit, Katastrophenhilfe, Mut und Glaube. Der Gottesdienst ist den Gläubigen wichtig, sie verstecken sich nicht. Viele lachende Gesichter sieht Ebertshäuser. Obwohl 1.674 Kirchen zerstört, fast alle Schulen und medizinischen Einrichtungen zerstört oder geschlossen worden sind. Viele Pfarrer, Lehrer und medizinische Helfer sind arbeitslos und ohne Einkommen, daher auf die Hilfsgüter der Kirche angewiesen. Lebensmittel, Töpfe, Seifen werden an Frauen verteilt, an viele junge Frauen, die schon Witwen sind, ihre Kinder auf dem Rücken und ca. 30 kg Hilfsgüter auf dem Kopf tragend, dankbar für die Unterstützung. Schicksale auch hier: Monika, deren Mann vor ihren Augen geköpft wurde, ihr selbst die Kehle durchgeschnitten, gefunden vom 9 Jahre alten Sohn, der sich vor Boko Haram versteckt hatte. Wie durch ein Wunder überlebte sie, kann nun nach über einem Jahr wieder sprechen und ihren Lebensunterhalt durch Nähen verdienen. Die Kirche bietet Traumaverarbeitung durch geschulte Teams an, um den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt durch Versöhnung zu unterbrechen. Das gegenseitige Mitteilen des Erlebten hilft, den ersten Schritt aus der Isolation des Traumas zu wagen. Ebenso gemeinsame Gebete und gegenseitige Segnungen. „Unsere Hilfe kommt vom Herrn, dem Hüter seines Volkes“, so leitete ein Duo, begleitet von der Mosaik-Band, über zum dritten Teil des Vortrags. Hoffnungszeichen in der Krise. Zum Beispiel Markus Gamache, ein Business Manager der Kirche, der zusammen mit seiner Frau 53 Flüchtlinge bei sich zu Hause aufgenommen und versorgt hatte. Aktuell leben „nur noch“ 27 Personen in seinem Haus, in 5 Zimmern und einer Schlafveranda. Wie sie das geschafft hätten? Sie hätten größere Töpfe gekauft und abwechselnd, „in Schichten“, geschlafen. Markus ist ein Christ mit islamischer Mutter, die über ein Jahr ohne ein Lebenszeichen verschollen war und nun wieder bei ihm lebt. Zusammen mit Muslimen hat er die „life line compassionate global initiative“ gegründet, eine Rettungsinitiative und interreligiöses Friedensprogramm. Inzwischen wurde ein Modelldorf eingeweiht, in dem Christen und Muslime, Menschen aus verschiedenen Stämmen, zusammen leben. Alle sind vor Boko Haram geflüchtet. Nun führen sie zum ersten Mal wieder ihre traditionellen Tänze auf, auch wenn noch viel Traurigkeit in den Gesichtern zu sehen ist. Zwei weitere größere Siedlungsprojekte für Flüchtlinge besuchte Ebertshäuser, die eher für Christen bestimmt sind. Die lifeline compassionate global initiative hilft auch muslimischen Flüchtlingen, Waisen können die Schule besuchen. Boko Haram heißt „Buch ist Sünde“, gemeint ist damit die westliche Bildung. Der Schulbesuch der muslimischen Kinder sei daher ein wichtiges Zeichen und Anliegen. Kleinkredite helfen den Frauen, durch den Verkauf von selbst hergestellten Produkten ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Stolz präsentiert eine Frau ihre Nudelmaschine, mit der sie traditionelle Nudeln herstellt und auf dem Markt verkauft. Aber Ebertshäuser sah auch Kinder, die im Müll nach Essbarem suchten. Trotz Ohnmacht gebe es jedoch Hoffnung und Zuversicht durch diese beispielhaft erwähnten Männer und Frauen. Aber die Menschen in Nigeria sind auf unsere Hilfe und Unterstützung angewiesen. Die an diesem Abend gesammelten Spenden, darunter auch der neuapostolischen U18-Jugend, gehen zu 100% an die Menschen in Nigeria. Von beiden Chören und der Band gemeinsam vorgetragene Lieder leiteten zum Abschluss der Benefizveranstaltung über. Stellvertretend für alle Menschen, die dem Terror in Nigeria bisher zum Opfer gefallen sind, wurden zehn Namen vorgelesen. Ein anschließendes Friedensgebet sprachen Mitglieder der evangelischen und der neuapostolischen Kirche sowie eine Vertreterin der Internationalen Muslimischen Gemeinschaft Reutlingen. Das Konzert endete mit dem Lied „we shall overcome“, das die versammelte Gemeinde gemeinsam vortrug, darunter auch in Reutlingen lebende Flüchtlinge aus Nigeria. „Wir werden überwinden – wir haben keine Angst – Schwarz und Weiß gemeinsam – wir werden in Frieden leben – eines Tages!“